Für die konventionelle Wirtschaftstheorie ist menschliches Handeln eine Abfolge rationaler Entscheidungen. Sie ist laut Tony Judt zwar angeschlagen, aber unbeeindruckt, obwohl sie die Finanzkrise weder vorhergesehen noch verhindert hat. Für die Anhänger dieser Theorie ist der Mensch ein ökonomisches Wesen, der nur seine individuellen Interessen verfolgt und dabei Kriterien wie Altruismus, Selbstverleugnung, Geschmack, kulturelle Gewohnheiten oder kollektive Wünsche nur minimal berücksichtigt. Da der Mensch mit genügend vielen und korrekten Informationen über den Markt ausgestattet ist, trifft er demnach die bestmöglichen Entscheidungen, die sowohl dem eigenen Interesse dienen als auch dem Ganzen zugute kommen.
Die Ineffizienz der Markwirtschaft
Gemäß Tony Judt kann heute allerdings niemand ernsthaft von der Effizienz der Marktwirtschaft sprechen. Denn auch für Marktheoretiker gilt: Sie wissen nicht alles, und am Ende wird offenbar, dass sie eigentlich gar nichts wissen. Die „falsche Präzision“, die John Maynard Keynes seinen Kritikern vorwarf, ist heute so aktuell wie damals. Tony Judt kritisiert: „Schlimmer noch. Wir haben zur Stärkung unserer ökonomischen Argumente ein irreführend „ethisches“ Vokabular eingeführt, das unseren blanken Zweckmäßigkeitsüberlegungen Glanz verleihen soll.“
Wenn in Amerika oder anderen Industriestaaten zum Beispiel soziale Leistungen gekürzt werden, sprechen Politiker gerne von den schwierigen Entscheidungen, die sie zu treffen hatten. Es ist nicht verwunderlich, dass es in Krisen immer zuerst die Unterschicht trifft. Tony Judt erklärt: „Arme beteiligen sich in weit geringerer Zahl an Wahlen als Besserverdienende. Deshalb ist es politisch nicht sehr riskant, sie zu bestrafen. Wie „schwierig sind solche Entscheidungen also?“
Ehrlichkeit und Mäßigung liegen nicht in der Natur des Kapitalismus
Tony Judt fordert, dass die Menschen aufhören müssen, die Welt und ihre Entscheidungen völlig frei von moralischen Kategorien zu beurteilen. Es sollte die Frage gestellt werden, wonach die Menschen streben und unter welchen Bedingungen ihre Bedürfnisse erfüllt werden können. Das geht nicht ohne Vertrauen. Märkte schaffen allerdings nicht automatisch Vertrauen, Kooperation oder ein Handeln, das sich am Gemeinwohl orientiert. Es liegt laut Tony Judt in der Natur der ökonomischen Konkurrenz, dass ein Akteur, der gegen die Spielregeln verstößt, zumindest kurzfristig einen Vorteil gegenüber seinen Mitbewerbern hat.
Die Werte der Zurückhaltung, der Ehrlichkeit und Mäßigung liegen nicht in der Natur des Kapitalismus, sondern gehen auf alte religiöse und soziale Ideale zurück. Tony Judt schreibt: „Die „unsichtbare Hand“ des Kapitalismus, getragen von traditioneller Zurückhaltung und der Autorität säkularer und kirchlicher Eliten, profitierte von der schmeichelhaften Illusion, dass jede moralische Verfehlung unnachsichtig korrigiert werde.“ Diese günstigen Ausgangsbedingungen sind allerdings mittlerweile Geschichte. Inzwischen können unregulierte Märkte und extreme Ungleichheiten beim Einkommen ganze Gesellschaften zerstören.
Von Hans Klumbies