Auch unter den Bedingungen eines wirtschaftlichen Stillstands müssen die Sozialsysteme und die freiheitliche Demokratie funktionieren. Wie dies möglich ist, muss laut Prof. Dr. Meinhard Miegel jetzt erarbeitet werden. Große Teile der Welt, allen voran Europa, Nordamerika, Japan und Australien hängen geradezu süchtig am Wirtschaftswachstum. Gerät es ins Stocken, werden diese Länder von Panikattacken heimgesucht und existentiellen Ängsten geplagt. Die Wirtschaft muss wachsen, ständig wachsen. Hierüber sind sich nicht nur die Parteien und Politiker, sondern auch eine breite Öffentlichkeit weitgehend einig.
Die meisten Deutschen halten Wirtschaftswachstum für unverzichtbar
Meinhard Miegel zitiert aus einer Studie, nach der 73 Prozent der deutschen Bevölkerung befürchten, dass Deutschland ohne wirtschaftliches Wachstum nicht überleben könne. 61 Prozent sagten, dass ohne Wachstum alles nichts sei. Wirtschaftliches Wachstum gilt vielen Menschen als unabänderbare Voraussetzung für ausreichende Beschäftigung, funktionierende soziale Sicherungsnetze, geringe öffentliche Schulden und eine stabile Demokratie.
Das Wohl und Wehe der meisten Völker der Erde hängen scheinbar am Wirtschaftswachstum. Dass die Phase eines menschheitsgeschichtlich einzigartigen Wirtschaftswachstums zumindest in den früh industrialisierten Ländern auf absehbare Zeit vorüber ist, bezweifeln nur noch diejenigen, die ihre Augen fest vor der Wirklichkeit verschießen, behauptet Meinhard Miegel.
Ab den 70iger Jahren verminderten sich in der Mehrzahl der industrialisierten Länder von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunächst die Wachstumsraten, dann die absoluten Zuwächse. Prof. Miegel ist davon überzeugt, dass die Menschheit im Grunde in der heutigen Krise für den abermals fehlgeschlagenen Versuch der USA und Großbritanniens bezahlt, durch das Aufblähen von Geldmengen Wachstums- und Wohlstandsillusionen zu erzeugen, die von Anfang an keine Substanz hatten.
Wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis ist für Meinhard Miegel töricht
Für Meinhard Miegel sollte die Weltwirtschaftskrise den Menschen lehren, dass alle Bemühungen gegen stabile historische Trends, Wachstum erzeugen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sind. Viel zu lange haben sich die Industriestaaten mit ihrer Wachstumspolitik mehr geschadet als genutzt. Der Vorstandsvorsitzende der „Denkfabrik Zukunft“ Meinhard Miegel gibt allerdings zu, das Wachstum in bestimmten Fällen durchaus wünschens- und erstrebenswert sein könne.
Nur wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis bezeichnet er als töricht. Denn es gibt historische Phasen, in denen sich die Wirtschaft nur recht verhalten entwickeln kann wie es derzeit der Fall ist. Meinhard Miegel postuliert, dass die Industrienationen ihre Zukunft nicht weiter wie bisher vom Wirtschaftswachstum abhängig machen dürfen – das wäre in seinen Augen tollkühn. Auch unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Stillstands und selbst Rückgangs müssen der Arbeitsmarkt, die sozialen Sicherungssysteme, die öffentlichen Haushalte und die freiheitliche Demokratie funktionieren.
Wie dies möglich ist, muss laut Meinhard Miegel jetzt möglichst schnell erarbeitet werden. Bislang hat die Politik dazu keinen nennenswerten Beitrag geleistet – stattdessen blind darauf vertraut, dass die Wirtschaft stets um so viel wächst, um die politische Stabilität zu garantieren. Diesem Vertrauen hat die Weltwirtschaftskrise die Grundlage entzogen.
Von Hans Klumbies