Eine allgemeine Folge der geistigen Wende, die das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts geprägt hat, ist für Tony Judt die Verherrlichung des Privatunternehmers und der Privatisierungskult. Für die Anhänger dieser Ideen ist die Abschaffung staatlicher Dienstleistungen rein pragmatisch gewesen. Man verspricht sich in Zeiten knapper öffentlicher Kassen, Einsparungen. Unwirtschaftliche Staatsunternehmen oder teure öffentliche Dienstleistungsbetriebe wie zum Beispiel Wasserwerke oder Eisenbahn werden privatisiert. Auf diese Weise fließt sofort Geld in die leeren öffentlichen Kassen und durch das Interesse der neuen Eigentümer am Profit steht das privatisierte Unternehmen bald viel effizienter da. Auf den ersten Blick ist die Privatisierung gemäß Tony Judt eine Abkehr von der politischen Ideologie und eine Hinwendung zu strikter Wirtschaftlichkeit.
Steuergelder fließen in die Taschen der Aktionäre
Die Theorie geht davon aus, dass in einem privatisierten Staatsbetrieb investiert und auf effiziente Preisgestaltung geachtet würde. Die Praxis sieht laut Tony Judt allerdings ganz anders aus. Er schreibt: „Die meisten Betriebe, die vom Staat an Privatunternehmen verkauft wurden, operierten mit Verlust. Ob Eisenbahnen, Bergwerke, Postdienste, Energieversorger – die Kosten für Bereitstellung und Unterhalt sind immer höher als die möglichen Einnahmen.“ Solche Firmen waren nie sehr interessant für private Investoren, es sei denn, sie wurde äußerst günstig angeboten.
Wenn der Staat allerdings seine Unternehmen billig verkauft, bedeutet das einen Verlust für das Gemeinwesen. Steuergelder werden quasi zugunsten der Aktionäre der privatisierten Unternehmen umverteilt. Manchmal sind Privatinvestoren nur deshalb bereit, einen Staatsbetrieb zu kaufen, weil der Staat ihnen sämtliche Risiken abnimmt. Tony Judt schreibt: „Unter derart privilegierten Bedingungen wird sich der private Sektor als mindestens so ineffizient erweisen wie der öffentliche Sektor – er wird die Gewinne abschöpfen und die Verluste auf den Staat abwälzen.“
Die beliebte Parole „too big to fail“
Das Ergebnis ist laut Tony Judt eine gemischte Wirtschaft der schlimmsten Art: Privatunternehmen, deren Verluste uneingeschränkt von der öffentlichen Hand beglichen werden. Wenn die privatisierten Firmen in Schieflage geraten, wenden sie sich an die entsprechende Regierung und verlangen Staatshilfen. Wenn dies öfter geschieht, kommt es zu einer schleichenden De-facto-Renationalisierung, der allerdings die Vorteile der staatlichen Kontrolle entzogen bleiben.
Tony Judt stellt fest: „Das Ergebnis ist Moral Hazard. Die beliebte Parole, wonach die aufgeblähten Banken, die die internationale Finanzwelt erschütterten, „too big to fail“ seien, lässt sich natürlich endlos erweitern.“ Kein Staat kann sich beispielsweise den Zusammenbruch seines Eisenbahnsystems erlauben. Ebenso wenig kann er privatisierte Energieversorger wegen Misswirtschaft oder Unfähigkeit Pleite gehen lassen. Die neuen Manager und Eigentümer wissen das natürlich und handeln entsprechend.
Von Hans Klumbies